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Sibyll Klotz
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Frage von Michael U. M. •

Frage an Sibyll Klotz von Michael U. M. bezüglich Arbeit und Beschäftigung

Sehr geehrte Frau Dr. Klotz,

Alle Parteien reden über den Umgang mit Arbeitslosigkeit, über Maßnahmen, um Menschen in Arbeit zu bringen, über die Wandlung des Steuersystems, um Arbeitsplätze zu schaffen und vieles mehr ... was mir in den Ohren geblieben ist, war der Ausspruch "Arbeit hat Vorfahrt". Was ich vermisse, sind die Parteien, die Menschen in politischen Vereinigungen, die es endlich aussprechen oder sogar ehrlich werden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß alle Bürger, die sich in die Politik einbringen immer noch an dieses Arbeitsmarktkonzept glauben. Wer glaubt denn bitte mit ganzem Herzen daran, daß wir 5.5 Mio. Menschen wieder in Arbeit bringen. Also ich nicht. Ich glaube, daß die Zahl in den nächsten Jahren durch Globalisierungseffekte und Rationalisierung einfach noch weiter steigen wird. Nun bin ich aber nicht der, der das verteufelt. Das ist doch eine ganz normale Sache. Wir arbeiten sehr effizient und deshalb können die ganzen Konsumgüter von 2/3 der Menschheit erschaffen werden, wie uns das auch schon Herr Gorbatschow vor 20 Jahren prophezeit hat. Auch er sagte schon zu der damaligen Zeit, daß wir anfangen sollten darüber nachzudenken, was wir mit dem anderen Drittel der Menschheit anfangen. Wer heute noch an die Vollbeschäftigung glaubt, der gehört für mich zu denen, die weit in der Vergangenheit leben und nichts begriffen haben über die Zeichen der Zeit. Wenn wir uns heute morgen die Taschen voller Geld füllen würden und hinausgehen in die Welt, dann würde ich gern wissen, welches Konsumgut ich dort nicht erwerben kann bzw. es nicht innerhalb von 24 h von jedem Platz der Welt hier her bringen lassen könnte. Ich glaube, wir werden da kaum etwas finden. Die Regale sind voll mit Brot, Autos, Wäsche usw. Was sollen denn bitte diese 5.5 Mio Menschen die sich nicht in Erwerbsarbeit befinden herstellen ? ... Welches Konsumgut sollen sie erschaffen ? Es werden immer wieder Versuche unternommen und an das Wirtschaftswunder appelliert. Ich denke das ein Großteil der Menschen vergißt, daß wir in einer völlig neuen Situation leben. Wir haben zum Glück seit 60 Jahren ein "friedliches" Europa aber auf der anderen Seite ist das auch ein bißchen das Problem. In den letzten Jahrhunderten war das doch immer wieder der Motor für den Kapitalismus. Krieg - Waffen - Zerstörung - Dezimierung der Bevölkerung - Neuaufbau. Dieser Kreislauf hat das System lange, lange Zeit am Leben erhalten. Nun ist es zum Glück anders geworden. Die Menschen leben - aber nun ist das System am Ende. Da es für mich in keinster Art und Weise abzusehen ist, daß wir in den nächsten 1-2 Jahren zu einer Vollbeschäftigung kommen werden, möchte ich gern wissen, was Ihre Konzepte sind, für die frei werdenden menschlichen Potentiale? Hartz IV ist doch sicherlich nicht wirklich das, was sie mir da erzählen wollen. Außerdem versucht das Hartzkonzept die Menschen immer noch in Erwerbsarbeit zu bringen. Ich denke, wenn wir endlich anfangen würden, uns zu lösen von der Idee, Menschen in Arbeit zu bringen und uns lieber Gedanken machen würden, was diese Menschen sinnvolles tun können, für manche unter Anleitung, andere können das auch allein, denn nicht jeder Arbeitslose sitzt zu Hause und bläst Trübsaal. Viele freuen sich auch über die frei gewordene Zeit und nutzen sie sehr sinnvoll. Über die Finanzierbarkeit kann man auch noch einmal reden aber das ist hier jetzt nicht der Gegenstand, denn ich denke, als erstes muß der Bundestag, die Regierung und auch das Volk das oben gesagte begreifen. Wie sind ihre Meinungen dazu Frau Dr. Klotz ?

MfG

Michael U. Mueller-Pasch

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Hallo Herr Mueller-Pasch,

ich habe mich, und das ist jetzt kein leicht durchschaubarer Versuch Ihre Stimme für die Grünen zu gewinnen, sehr über Ihre Mail gefreut, weil sie die zentrale Frage dieses Wahlkampfes (Arbeitslosigkeit) noch einmal anders und sehr grundsätzlich angeht. Und das ist dringend notwendig - gerade weil alle anderen Parteien den Anschein erwecken, als könne "Vollbeschäftigung" erreicht werden, wenn die Politik nur das Richtige tut.
Erst in der vergangenen Woche war von Wolfgang Clement zu lesen, er halte Vollbeschäftigung bis 2010 für möglich. Auch die PDS/Linkspartei strebt durch Umverteilung eine Vollbeschäftigung an, die es so nicht mal in den 70er Jahren gegeben hat - denn damals erhielt der Mann (im Westen) den Familienernährerlohn und die Frau verdiente allenfalls dazu. Und die CDU erklärt Vollbeschäftigung für erreichbar, wenn nur das Wachstum stimmt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese "alte Vollbeschäftigung" nicht erreichbar ist und halte es mit Hannah Arendt, die schon 1960 sagte: "Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht." In den letzten Jahren hat sich das Bruttosozialprodukt in der Bundesrepublik verdoppelt, die Arbeistzeit ist pro Beschäftigtem um ein Drittel zurückgegangen.
Der Produktivitätsfortschritt ist so rasant, dass mit immer weniger Einsatz von Arbeistkraft dieselben und bessere Produkte zu schaffen sind. Und ist das nicht eigentlich ein Luxus, ein Glück, dass mit immer weniger "Pflichtarbeit" die Produkte geschaffen werden können, die wir für die Existenzsicherung benötigen? Es ist kein Glück, wenn die Menschen, die nicht mehr für die Produktion dieser Existenzsicherung benötigt werden, abgehängt werden. Vom Einkommen und vom Wohlstand, von sozialen Beziehungen, vom Respekt und der Wertschätzung für das Geleistete, vom Zugang zu Bildung, Kultur oder Mobilität. Und genau in dieser Situation befinden wir uns. Ein wachsender Teil der Gesellschaft ist real abgehängt, nimmt seine Situation als solches wahr oder befürchtet, bald zu den von der Gemeinschaft Abgehängten dazuzugehören.

Damit ich nicht mißverstanden werde: Auch zukünftig wird die Erwerbsarbeit ein zentrales Moment des Lebens bleiben, was die wirtschaftliche Situation und die Identität betrifft. Menschen werden sich im Verhältnis zu Anderen auch in Zukunft darüber definieren, was "sie tun". Was sie aber tun, das ist zunehmend einem Wandel unterworfen. Immer weniger befinden sich dauerhaft in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis (in Berlin nur noch ein Drittel). Sie sind selbständig, arbeitslos, bilden sich weiter, erziehen Kinder oder haben einen befristeten Job. Es wird an uns liegen, die politischen Rahmenbedingungen dafür zu schffen, dass auch Leute mit diesen sog. Patchworkbiographien sozial abgesichert werden.

Deshalb treten wir Grüne erstens dafür ein, die sozialen Sicherungssysteme auf eine solide, gerechte Finanzierungsbasis zu stellen, bei der alle Einkommen und alle Gruppen der Bevölkerung einzahlen. Mit der Bürgerversicherung sollen die Sozialversicherungen allein von der bezahlten Arbeit abgekoppelt werden.

Wir wollen weiterhin Hartz IV zu einer sozialen Grundsicherung weiterentwickeln, die armutsfest und existenzsichernd ist, die für das Alter Angespartes unangetastet läßt und die Männer und Frauen individuell absichert. Die eigenständige Existensicherung soll nach grüner Auffassung auch im Steuerrecht und in den Sozialversicherungen durchgesetzt werden (Stichwort Mitversicherung und Ehegattensplitting).

Wir sind allerdings auch der Ansicht, dass durch den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft neue Arbeistplätze enstehen können. Zum Beispiel in der Umwelt, da arbeiten heute schon 1,5 Millionen Menschen. Allein im Bereich der erneuerbaren Energien sind in den letzten Jahren 140.000 Arbeitsplätze entstanden. Auch und gerade im Bereich von Bildung und Erziehung könnten in Deutschland weitaus mehr Menschen beschäftigt werden. Und nicht zuletzt wird durch die steigende Lebenserwartung auch der Bereich der Gesundheitswirtschaft ein Jobmotor.

Sie sehen, es gibt nicht die EINE Antwort auf die Beschäftigungskrise. Nur eine kluge Politik, die soziale Grundsicherung, Arbeitsumverteilung, einen sinnvollen zweiten Arbeitsmarkt aber auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze miteinander verbindet, kann den Fortschritt als etwas Positives auch erlebbar machen. Dazu bedarf es allerdings einer insgesamt anderen gesellschaftlichen Debatte, als wir sie derzeit haben ("Geiz ist geil" und "Arbeit muss her!"). Eine gesellschaftliche Debatte, die nicht die alten Parolen des Industriezeitalters aufgreift, sondern den tiefgreifenden Wandel akzeptiert, und die die Chancen, die daran stecken ausgestaltet.

In diesem Sinne viele Grüße Sibyll Klotz